Das Wichtigste in der Welt jetzt: Naomi Klein bei Occupy Wall Street

Naomi Klein, die kanadische Journalistin und Autorin der Bücher „No Logo“ und „Die Schock Strategie“ hat am 6. Oktober 2011 bei Occupy Wall Street in New York eine Rede gehalten, die in der Zeitschrift „The Nation“ abgedruckt wurde. Hier in deutscher Übersetzung:

Ich habe die Ehre einer Einladung gehabt, am Donnerstag abend bei Occupy Wall Street zu sprechen. Weil jede Form von Verstärkung (schmachvollerweise) untersagt ist, und alles was ich sage von hunderten von Menschen wiederholt werden wird, so dass es andere hören können (auch bekannt als „das menschliche Mikrofon“), war das, was ich wirklich auf dem Platz der Freiheit gesagt habe, sehr kurz. Eben deshalb hier die längere, ungekürzte Version meiner Rede.

Ich liebe dich.
Und ich wollte das nicht nur sagen, so dass Hunderte von euch zurückrufen würden „Ich liebe dich“, obwohl das natürlich ein Bonus-Feature des menschlichen Mikrofons ist. Sprich zu anderen, was du gern hättest, das sie zu dir sagen, nur lauter.

Gestern sagte einer der Redner auf der Arbeiterkundgebung: „Wir fanden einander.“ Dieses Gefühl erfasst die Schönheit dessen, was hier geschaffen wird. Ein weit offener Raum (sowie eine Idee, die so groß ist, dass sie in keinem Raum gehalten werden kann) für alle Menschen, die eine bessere Welt wollen, um einander zu finden. Wir sind so dankbar.
Wenn es etwas gibt, das ich weiß, ist es, dass das 1 Prozent die Krise liebt. Wenn die Menschen in Panik geraten und verzweifelt sind und niemand zu wissen scheint, was zu tun ist, ist das die ideale Zeit, um ihre Wunschliste der konzernfreundlichen Politik durchzudrücken: Privatisierung von Bildung und von Sozialversicherung, Kürzung öffentlicher Dienstleistungen, die Abschaffung der letzten Beschränkungen für die Macht der Konzerne. Mitten in der Wirtschaftskrise geschieht dies auf der ganzen Welt.

Und es gibt nur eines, das diese Taktik aufhalten kann und zum Glück ist dieses eine wirklich groß: die 99 Prozent. Und dass diese 99 Prozent auf die Straßen gehen von Madison bis Madrid um zu sagen: „Nein. Wir werden nicht für eure Krise zahlen.“
Das Motto kam auf in Italien im Jahr 2008. Es schwappte nach Griechenland und Frankreich und Irland und schließlich kam es in der Quadratmeile an, wo die Krise begann.
„Warum protestieren sie?“ fragen sich die verblüfften Experten im Fernsehen. Inzwischen fragt der Rest der Welt: „Warum habt ihr so lange gebraucht?“ „Wir haben uns schon gefragt, wann ihr auftauchen werdet.“ Und vor allem: „Willkommen.“

Viele Menschen haben Parallelen zwischen Occupy Wall Street und den sogenannten Anti-Globalisierungs-Protesten gezogen, die 1999 in Seattle die Aufmerksamkeit der Welt gewannen. Das war das letzte Mal, dass eine globale, jugendgeführte, dezentrale Bewegung direkt auf die Macht der Konzerne zielte. Und ich bin stolz darauf, Teil von dem gewesen zu sein, was wir die „Bewegung der Bewegungen“ genannt haben.
Aber es gibt auch wichtige Unterschiede. Zum Beispiel wählten wir die Gipfeltreffen als unsere Ziele: die Welthandelsorganisation (WTO), den Internationalen Währungsfonds (IMF), die G8. Gipfeltreffen sind von Natur aus vergänglich, sie dauern nur eine Woche. Das machte uns auch vorübergehend. Wir tauchten auf, ergriffen weltweit in die Schlagzeilen, und verschwanden. Und in der Hektik des Hyper-Patriotismus und Militarismus, die den 9/11-Angriffen folgten, war es leicht, uns vollständig hinwegzufegen – zumindest in Nordamerika.
Occupy Wall Street hingegen hat ein festes Ziel gewählt. Und ihr habt kein Enddatum für eure Anwesenheit bestimmt. Das ist sinnvoll. Nur wenn ihr an Ort und Stelle bleibt, könnt ihr Wurzeln schlagen. Das ist von entscheidender Bedeutung. Es ist eine Begebenheit des Informationszeitalters, dass zu viele Bewegungen aufblühen wie schöne Blumen, aber schnell absterben. Und zwar, weil sie keine Wurzeln haben. Und sie haben keine langfristigen Pläne, wie sie sich selbst halten wollen. Wenn also Stürme kommen, werden sie weggespült.
Horizontal und zutiefst demokratisch zu sein ist wunderbar. Aber diese Prinzipien sind kompatibel mit der harten Arbeit, Strukturen und Institutionen aufzubauen, die robust genug sind, um die Stürme zu überstehen. Ich habe großes Vertrauen, dass dies geschehen wird.
Noch etwas anderes macht diese Bewegung richtig: Ihr habt euch zur Gewaltlosigkeit verpflichtet. Ihr habt euch geweigert, den Medien die Bilder von zerbrochenen Fensterscheiben und Straßenkämpfen zu liefern, nach denen sie sich so verzweifelt sehnen. Und diese enorme Disziplin hat dazu geführt, wieder und wieder, dass die Story eine von schändlicher und unprovozierter Brutalität der Polizei war. Wovon wir letzte Nacht noch mehr gesehen haben. In der Zwischenzeit wächst die Unterstützung für diese Bewegung weiter. Mehr Weisheit.
Aber den größten Unterschied den ein Jahrzehnt macht, ist, dass wir uns im Jahr 1999 auf dem Höhepunkt eines wahnsinnigen wirtschaftlichen Aufschwungs mit dem Kapitalismus angelegt haben. Die Arbeitslosigkeit war niedrig, Aktienportfolios quollen auf. Die Medien waren wie benommen vom leicht verdienten Geld. Damals ging es nur um Startups, nicht um Schließungen.
Wir wiesen darauf hin, dass die Deregulierung hinter dem Wahnsinn seinen Preis hat. Es war schädlich für Arbeitsgesetzgebungen. Es war schädlich für Umweltstandards. Konzerne wurden mächtiger als Regierungen und das war schädlich für unsere Demokratien. Aber um ehrlich zu sein, sich während der guten Zeiten mit einem Wirtschaftssystem anzulegen, das auf Gier basiert, war schwer zu verkaufen, zumindest in den reichen Ländern.
Zehn Jahre später scheint es, als wenn es keine reichen Länder mehr gibt. Es gibt nur noch eine ganze Menge reicher Menschen. Menschen, die reich wurden durch das Plündern gesellschaftlichen Reichtums und das Ausbeuten natürlicher Ressourcen auf der ganzen Welt.
Der Punkt ist, dass heute jeder sehen kann, dass das System zutiefst ungerecht und unkontrolliert hin und her schwankt. Befreite Gier hat die Weltwirtschaft verwüstet. Und es verwüstet auch die natürliche Welt. Wir überfischen unserer Meere, verschmutzen unser Wasser mit Fracking– und Tiefseebohrungen, wenden uns zu den schmutzigsten Formen von Energie auf dem Planeten, wie die Alberta Ölsande. Und die Atmosphäre kann die Menge an Kohlendioxid nicht aufnehmen, die wir aussetzen, wodurch gefährliche Erwärmung entsteht. Die neue Normalität ist eine Serie an Katastrophen: ökonomische und ökologische.
Das sind die grundsätzlichen Fakten. Sie sind so unverhohlen, so offensichtlich, dass es viel einfacher ist, sie der Öffentlichkeit nahe zu bringen, als es im Jahre 1999 war, und viel einfacher, schnell eine Bewegung aufzubauen.

Wir wissen alle, oder spüren zumindest, dass die Welt Kopf steht: Wir handeln, als ob es kein Ende dessen gibt, was begrenzt ist – fossile Brennstoffe und die Atmosphäre, um ihre Emissionen zu absorbieren. Und wir handeln, als ob es strikte und unbewegliche Grenzen gibt zu dem, was tatsächlich freigebig ist – die finanziellen Mittel, um die Art von Gesellschaft zu bilden, die wir brauchen.
Die Aufgabe unserer Zeit besteht darin dies umzudrehen: diese falsche Knappheit herauszufordern. Darauf zu bestehen, dass wir uns leisten können, eine anständige, umfassende (engl. inclusive) Gesellschaft zu bilden – und gleichzeitig die realen Grenzen zu respektieren, was unsere Erde ertragen kann.
Klimawandel bedeutet, dass wir dies innerhalb einer Frist zu erledigen haben. Dieses Mal darf unsere Bewegung nicht abgelenkt, geteilt, ausgebrannt oder hinweggefegt werden von den Ereignissen. Dieses Mal müssen wir Erfolg haben. Und ich spreche nicht über die Regulierung der Banken und die Erhöhung der Steuern für die Reichen, auch wenn das wichtig ist.
Ich rede über einen Wandel der zugrundeliegenden Werte, die unsere Gesellschaft bestimmen. Das ist schwierig in eine einzige medienfreundliche Forderung zu bringen, und es ist auch schwierig herauszufinden, wie es zu tun ist. Aber es ist nicht weniger dringend weil es schwierig ist.
Das ist es, was ich auf diesem Platz vor sich gehen sehe. In der Art und Weise wie ihr euch gegenseitig ernährt, einander warm haltet, frei Informationen austauscht und medizinische Versorgung, Meditationskurse und Empowerment-Trainings erprobt. Mein Lieblingsplakat ist hier: „Ich kümmere mich um dich.“ In einer Kultur, die Menschen beibringt, den Blick aufeinander zu vermeiden, zu sagen: „Lasst sie sterben“, das ist eine zutiefst radikale Aussage.

Ein paar abschließende Überlegungen. In diesem großen Kampf gibt eine einige Dinge, die nicht von Bedeutung sind:
– was wir tragen
– ob wir unsere Fäuste schütteln oder Friedenszeichen machen
– ob wir unsere Träume für eine bessere Welt für die Medien entsprechend verpacken

Und hier sind ein paar Dinge, die von Bedeutung sind:
– unser Mut
– unser moralischer Kompass
– wie wir miteinander umgehen

Wir haben einen Kampf mit den mächtigsten wirtschaftlichen und politischen Kräften auf dem Planeten aufgenommen. Das ist beängstigend. Und je mehr diese Bewegung an Stärke zunimmt, um so beängstigender wird es werden. Seid euch immer der Versuchung, auf kleinere Ziele auszuweichen, bewusst – sagen wir, etwa auf die Person, die gerade bei diesem Treffen neben dir ist. Immerhin ist das ein Kampf, der leichter zu gewinnen ist.
Gebt dieser Versuchung nicht nach. Ich meine nicht, das ihr nun nicht mehr ansprecht, wenn jemand Mist baut. Aber behandelt euch dieses Mal so, als wenn Ihr vorhabt in einem Kampf nebeneinander zu arbeiten für viele, viele Jahre. Denn die bevorstehende Aufgabe erfordert nicht weniger als das.
Lasst uns diese schöne Bewegung so behandeln, als ob es das Wichtigste in der Welt ist. Denn das ist es. Wirklich.


Und hier ihre Rede auf Youtube:

Ausschnitt der Rede auf Youtube (29min)
Website von Naomi Klein: http://www.naomiklein.org
Interview am Rande: Naomi Klein @ Occupy Wall Street 10-06-2011 (7min)

Quelle: The Nation, 06.10.2011: „Occupy Wall Street: The Most Important Thing in the World Now“
Übersetzung: Tom Stelling/www.echte-demokratie-jetzt.de

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7 Antworten auf Das Wichtigste in der Welt jetzt: Naomi Klein bei Occupy Wall Street

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  5. Kathrin Weber sagt:

    Es tut so gut, solche Worte zu lesen und zu hören. Nicht mehr nachzugeben und diese Bewegung am Leben zu erhalten, solange es notwendig ist – nämlich bis zu dem Zeitpunkt, an dem endlich Gerechtigkeit aus Gleichheit resultiert. Einer Gleichheit, die einfach zugesteht, dass wir uns ähnlich sind, selbst dann, wenn wir miteinander wetteifern oder uns bekämpfen. Wir sind uns immer ähnlich – wir sind aufeinander angewiesen. Die moderne Welt verspricht Selbstverwirklichung durch Individualisierung und Selbstbehauptung. Aber richtig ist, dass wir als menschliche Lebewesen soziale und zugleich politische Wesen sind. Das ist keine neue Einsicht – in unserer Zeit jedoch umso wichtiger, um unsere wahre Stärke zu erkennen. Deshalb finde ich den Hinweis auf das Plakat mit der Aufschrift „Ich kümmere mich um dich“ so sehr wichtig. Das heißt nämlich nicht nur, dass sich jemand anbietet, sondern zugleich eröffente es dem Anderen die großartige Chance, zu sagen „Ich brauche dich, hilf mir“, ohne befürchten zu müssen, abgewiesen oder geschmäht zu werden. Danke für diesen neuen Mut.

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