Das Jahr 2011 war das Jahr von Natur- und von Menschen gemachten Katastrophen wie Fukushima und der Finanz- und Schuldenkrise – und auch das Jahr des weltweiten Protests. Das Magazin TIME hat „die Demonstrantin“ sogar zur Person des Jahres erklärt. Der arabische Frühling wanderte von Nordafrika über Chile, Spanien, Israel und Griechenland, dann auch unter dem Namen „Occupy Wall Street“ in die USA und breitete sich mit dem 15. Oktober weiter global aus. (Occupy goes global / Menschen erobern öffentlichen Raum zurück (5 min):
Entgegen vieler Erwartungen kam der Protest (über den von Stuttgart 21 hinaus) auch in Deutschland an. Es haben sich wie in anderen Ländern nach dem 15. Oktober auch Zeltcamps gebildet und Ilona und Marek haben einige Orte besucht und in einem Film die ganz unterschiedlichen Eindrücke ihrer Occupy-Herbstreise festgehalten.
„Occupy“ ist vor allem die Vielfalt, und damit der vielfältige – und doch auch gemeinsame – Aufbruch in eine Welt, in der es Alternativen gibt. Keiner kann für alle sprechen, oft nicht einmal für viele. Es gibt kaum öffentlich sichtbare Führungspersönlichkeiten. Zuerst einmal spricht wieder jeder für sich, sagt damit „sie repräsentieren mich nicht“ und gibt seine Stimme nicht mehr so einfach ab. Und Menschen sprechen miteinander. Menschen wie etwa solche in Israel, die vorher lange gar nicht mehr miteinander im Gespräch waren. Das „I care for you.“/“Du bist mir wichtig“, beeindruckte Naomi Klein in New York am meisten. Vielerorts werden also soziale Verbindungen neu erfunden, in Europa ausgehend von der spanischen Bewegung der Empörten seit dem 15. Mai.
Manche sprechen davon, dass es schön sei, in dieser Protestbewegung so viele Gleichgesinnte zu treffen. Auch wir haben einige Gleichgesinnte in diesem Jahr kennengelernt, sind aber auch vielen Andersgesinnten begegnet (im realen wie im virtuellem Raum), wo oft auch das Verbindende zuerst einmal nicht spürbar war, sondern manchmal erst in Gesprächen hergestellt werden konnte. Das gelingt natürlich nicht immer. Es kostet Zeit und Geduld. Selbstverständlich gibt es dieses Verbindende, das Interesse an einer gerechteren Welt – allerdings scheinen die Wege dorthin – und auch die Art und Weise, wie wir diese Wege beschreiten wollen, oft sehr unterschiedlich.
Es wird nach Forderungen gefragt. Es gibt keine. Diese rEvolution ist anders. Es kann darin ein weltweites Umdenken gefunden werden, vielleicht ein Umschwung. Es wird vielerorts die Frage gestellt, wie wir als Menschen miteinander umgehen und leben wollen, wie wir Menschen vor Profite stellen können und jenseits von Lobbyismus, Einzelinteressen und Privatisierung wieder dem Gemeinwohl und dem öffentlichen Raum eine größere Bedeutung verschaffen können. Menschen erkennen ihre echten Bedürfnisse und sind offen, sich die ihrer Mitmenschen anzuhören. Menschen hören einander zu.
Das wettbewerbsorientierte Konkurrenzdenken wird langsam abgelöst, wenn Menschen erkennen, dass wir nurmehr miteinander kooperieren können, wenn wir weiter wollen. Nationalstaatliche Grenzen ergeben bei vielen der heutigen globalen Probleme keinen Sinn mehr (auch wenn diese gewohnheitsbedingt immer noch grundlegend sind für unser Denken und Handeln). Experten liefern uns heute viele sich widersprechende Antworten, von denen sie meinen, es wäre „die Lösung“ oder gar „die Wahrheit“, obwohl wir wohl gerade neue Formen der kollektiven Intelligenz, des Miteinander Denkens und Handelns entwickeln müssen.
Ansätze dazu finden sich in den neuen Demokratiebewegungen:
Das Miteinander wird geübt, es wird nach sinnvollen und nachhaltigen Wegen geforscht, wie wir ein Zusammenleben organisieren können, das möglichst alle Menschen einbezieht. Gemeinsames Denken und mehr Konsens scheint ein möglicher Ansatz zu sein. Von 99 Prozent wird gesprochen und dieses Bild hat eine starke Symbolkraft. Doch zum „WIR“ wird es erst, wenn wir potenziell 100 Prozent denken und fühlen können. Sonst bleibt es beim „wir“ gegen „die“. Es kann dann im „Dagegen“ steckenbleiben und wird kein „Dafür“. Dagegen ist OUT. Dafür ist IN.
Aber gerade mehr vom „Dafür“ scheinen wir zu brauchen, um wirklich der Wandel zu sein. Wir verändern uns selbst, wie wir miteinander umgehen, wie wir denken, in Zeiten, in denen manche sagen: Es hält nicht mehr – und Umdenken und neue Haltungen gefragt sind.
In den Bewegungen, durch die Menschen auf den Plätzen und Camps, aber auch durch die Menschen, die vielleicht „nur“ im Internet beteiligt sind, werden gemeinsam Grenzen im Denken überwunden und (Mit-)Gefühle wieder zugelassen. Dass dieser Prozess nicht leicht ist, ist auch bei all den tapferen Menschen zu sehen, die in den Camps der (sozialen) Kälte trotzen und an ihre Belastungsgrenzen im Miteinander stoßen. Plötzlich tauchen viele neue Perspektiven und Bedürfnisse anderer Menschen auf, die in einer Welt vereint, in das eigene Weltbild integriert werden wollen. Dafür braucht es oft viel Geduld, Zeit, Verständnis und Mitgefühl – und davon ist nicht immer ausreichend vorhanden. Wir lernen noch.
Das neue Alte ist vielleicht auch, dass Menschen den Mut fassen, ihre Masken fallen zu lassen und sich zu zeigen (oder sich auch erst einmal gerade eine Maske aufziehen, um anonym zu bleiben und für sich einzustehen).
In jedem Fall erheben Menschen ihre Stimme, statt sie einfach abzugeben. Sie empören sich, sie engagieren sich. Das macht verletzlich, angreifbar und zugleich stark, weil die eigene Authentizität gelebt wird – und durch das Zuhören der Anderen auch gelebt werden kann, will und darf.
I care for me, I care for you. We care for us.
„Und es gibt schon ein Ergebnis, das sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat, das von New York bis zu den Abendessen in Berlin-Mitte oder Hamburg-Eppendorf reicht und ein weltweites Gespräch darüber in Gang gesetzt hat, wie wir leben […] wollen: Der Slogan von den „99 Prozent“ hat die Frage nach der Gerechtigkeit klarer gefasst als 100 Gewerkschaftskongresse.“ (spiegel.de, 23.12.: Der Aufstand hinter der Maske)
Uns allen gute Gedanken und offene Herzen.
Einen guten Rutsch und alles Gute für 2012!
Uli + Tom
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Ich denke, das wichtigste daran war, dass ein politischer Raum geschaffen wurde der als Symbol überaus wichtig ist und auf dem man in 2012 aufbauen kann.
In diesem Sinne: „es gibt nichts Gutes außer man tut es…“